Tag 20 - Die Königsetappe

Wir machen uns auf den wohl spannendsten Teil unserer Reise und überqueren die Emsmündung bis nach Delfzijl. Nach einer entspannten Weiterfahrt wird die Suche nach einem Anlegeplatz in Groningen nochmals aufregend.

· 6 Minuten Lesezeit
Tag 20 - Die Königsetappe
Sonnenaufgang vor der Marina Rhede

Samstag 30.10.2021
Wetter: Regen
Windstärke: 3-4
Motorstunden: 8.5 h
Distanz: 92 km
Schleusen: 1 (Delfzijl Farmsum)
Route:

Rhede - Groningen

In der Nacht kontrollieren wir mehrmals die Leinen und das Boot. Es liegt friedlich auf dem Schlick, und um 03:00 beginnt das Wasser wieder in der Vorhafen zu gurgeln. Um ca. 05:00 schwimmt unser Boot wieder. Da um 07:40 Hochwasser ist, machen wir bei Sonnenaufgang um 08:20 Uhr die Leinen los. Wir können gut rückwärts von der Anlegestelle in die Ems einbiegen und uns auf das lange letzte Stück des Wegs in die Niederlande machen.

Man darf ruhig sagen, dass wir kolossal erleichtert sind, dass wir und unser Boot die Nacht unbeschadet überstanden haben. Da wir mit dem ablaufenden Wasser unterwegs sind, kommen wir auf eine Geschwindigkeit von 14 km/h SOG (speed over ground). Bald ziehen wir schon an Papenburg vorbei, wo eine grosse Schiffswerft Kreuzfahrtschiffe baut.

Schiffswerft Meyer in Papenburg

Diese müssen dann jeweils nach Fertigstellung die Ems hinunter in die Nordsee manövriert werden. Für diesen Zweck muss die Ems jeweils extra aufgestaut werden, damit genug Wassertiefe vorhanden ist. Dem Ems-Sperrwerk werden wir später noch begegnen.

Kurz nach Papenburg fahren wir zwischen den Überresten einer havarierten Eisenbahnbrücke durch. Diese wurde 2015 beschädigt, als sie von einem Berufsschiff gerammt wurde. Seither ist die Eisenbahnverbindung von Ostfriesland nach den Niederlanden unterbrochen. Offenbar tut man sich schwer mit der Planung und Realisierung einer neuen Brücke. Und die Meyer-Werft hat sicher ein Wörtchen mitzureden, weil der neue Bau ja so geplant werden muss, dass die riesigen Kreuzfahrtschiffe hindurchpassen. Ob da wohl je eine neue Brücke gebaut wird? Und wenn ja, zu welchen Kosten? Ich zitiere Wikipedia: «Der Wiederaufbau der Friesenbrücke könnte länger dauern (als 2024) und deutlich mehr kosten als geplant».

Wir haben die nicht kaputt gemacht!

Etwas später tuckern wir an Leer vorbei, einer bekannten ostfriesischen Stadt, die wir gerne besucht hätten. Leider werden an der Schleuse Leer Wartungsarbeiten durchgeführt, so dass wir nicht in die Stadt gelangen können. Darum haben wir den Besuch schon vor Reiseantritt gestrichen.

Nach der letzten Biegung der Ems vor der Mündung fahren wir durch das Ems-Sperrwerk. Hier kann die Ems komplett gestaut werden. Das passiert etwa zweimal im Jahr, wenn ein neues Schiff der Meyer-Werft Richtung Meer bugsiert wird.

Ems-Sperrwerk Gandersum
Ems-Sperrwerk Nahaufnahme

Natürlich würde das Bauwerk bei einer Sturmflut ebenfalls geschlossen, um das Hinterland vor Überschwemmungen zu schützen.

Wir fahren weiter Richtung Emden. Dort beginnt die Emsmündung, der Dollart. Die Wetter-Apps sehen voraus, das es zwar ein wenig regnen kann und der Wind bis zu 4 Beaufort weht, aber die Wellen sind nicht hoch. Wir können die Überfahrt nach Delfzijl wagen. Im Hafen Emden liegen die riesigen Autofrachtschiffe, die grosse Mengen an Volkswagen in die ganze Welt bringen.

«Umweltfreundlicher» moderner Autofrachter, der mit LNG (Erdgas) statt Schweröl fährt

Die Überfahrt über den Dollart gelingt gut. Die Markierungen der Fahrrinne und der Schiffsverkehr müssen beachtet werden.

Zwischendurch rauscht an Steuerbord eine grosse Fähre vorbei, die von Emden zur Insel Borkum fährt. Ansonsten ist die Fahrt ruhig, obschon unser Boot etwas mehr als üblich schaukelt.

Auf hoher See!

Bald biegen wir in den langen Kanal Richtung Delfzijl ein und beglückwünschen uns für die erfolgreiche Fahrt über den Dollart.

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Fahrt Richtung Delfzijl. Man beachte den leistungsfähigen Scheibenwischer

Wir waren aufgrund der Strömung rekordverdächtig schnell unterwegs, so dass wir jetzt um 14:00 Uhr entscheiden, in Delfzijl in den Eemskanaal zu schleusen und gleich weiter nach Groningen zu fahren. Wir können in Delfzijl durch die kleine Schleuse fahren. Diese hat mehrere Kammern. Das checken wir aber beim Einfahren nicht und machen zu weit hinten fest. Die Lautsprecherdurchsage fordert das Sportboot auf, weiter nach vorn in die nächste Schleusenkammer zu fahren. Also legen wir nochmals ab und machen weiter vorn fest. Nun klappt die Schleusung. Nach der Ausfahrt sind wir hinter einem schwer beladenen Berufsschiff, das mit etwa 9 km/h Richtung Groningen schleicht. Das ist uns recht, denn nach der Hochgeschwindigkeitsfahrt die Ems hinab und über den Dollart wollen wir es von jetzt an nur noch gemütlich angehen. Schliesslich sind wir in den Niederlanden und unserem Reiseziel schon recht nah. Das Fahren hinter dem Frachtschiff hat noch einen weiteren Vorteil: Wir können jeweils die Brückenöffnungen ausnutzen und mit durchschlüpfen.

Wir sind in den Niederlanden!

So gelangen wir schliesslich kurz vor 17:00 Uhr nach Groningen. Dort kurven wir in den Jachthaven des Motorbootclub Groningen. Der ist sehr eng, und wir manövrieren ganz nach hinten und wieder zurück, ohne einen idealen Anlegeplatz zu finden. Da es in der Nähe keinen anderen Hafen gibt, den wir noch erreichen können (am Samstag sind die Brücken in die Stadt ab 16:00 Uhr geschlossen), legen wir ziemlich ratlos am Anmeldesteiger an. Es hat zwar eine freie Box, aber wegen dem Wind und der engen Verhältnisse traue ich mich dort nicht einzufahren. Es wäre nicht erfreulich, ein fremdes Boot zu beschädigen.

Wir sehen auf dem Bootssteg einen Mann in grellgelber Jacke und fragen ihn, ob der er Havenmeester sei. Er verneint und fragt, ob wir Hilfe brauchen. Wir erwidern, dass wir nicht wissen, wo wir anlegen können. Er zeigt auf die leere Box und meint, diese sei frei, dort könnten wir einfahren. Er erklärt uns auch, wo die sanitären Anlagen sind und wo wir das Couvert für die Hafengebührt finden. Ich überwinde mich und erkläre ihm, dass ich mir nicht zutraue, in die Box zu fahren. Ohne weitere Worte klettert er zu uns aufs Boot, geht zum Führerstand und startet den Motor mit der Bitte, die Leinen los zu machen. Er fragt uns, ob wir vorwärts oder rückwärts einparken wollen. Dann zirkelt er das Boot - mit etwas Mühe, aber sehr gewandt - rückwärts in die Box. Fünf Minuten später liegen wir sicher vertäut in der Box. Strom haben wir auch schon angeschlossen. Wir bedanken uns überschwänglich bei dem netten Niederländer und bekräftigen, dass er uns den Tag gerettet hat. "Kein Problem", meint er lächelnd und wünscht uns eine gute Weiterreise. Wir sind glücklich und erleichtert. Erstaunt stellen wir fest, dass wir heute mehr als 90 km zurückgelegt haben! Das war ein richtiger Marathon!

Als erstes steht ein Einkauf auf dem Programm. Wir marschieren zu "Albert Hein", einem Supermarkt, der mit unserem Coop vergleichbar ist. Dort ist alles sehr sauber und das Personal ist sehr freundlich. Wir stocken unsere Vorräte für die letzten Tage auf. Zurück auf dem Boot gibt es ein feines Menü mit gebratenem Fisch, Kartoffelsalat und Grünzeug mit Tomaten. Diese Nacht werden wir bestimmt besser schlafen als die letzte!

Hier kann ich es mir nicht verkneifen, eine subjektive Beurteilung der Begegnungen mit anderen Menschen vorzunehmen. Das Beispiel mit dem hilfreichen "Einparker" in Groningen ist für die Niederlande typisch. In Oldenburg haben wir die gegenteilige Erfahrung gemacht. Dort wollten wir an dem mit dem Hafenmeister telefonisch abgesprochenen Bereich des Gästestegs festmachen. Sofort rief ein älterer Herr vom Nachbarboot zu uns herüber: "Hier können Sie nicht einfach festmachen! Hier ist reserviert! Sie müssen weiter vorziehen auf den freien Bereich!" Da wir nicht sicher waren, ob die Markierung wirklich für uns ist, verlegten wir das Boot nah vorn. Ein Anruf beim Hafenmeister bestätigte aber, dass er die Anlegestelle extra für uns markiert hatte. Also verlegten wir das Boot wieder dorthin zurück. Der Bootsnachbar wird in Unkenntnis der Lage die ganze Nacht gedacht haben, welche Frechheit wir uns erlauben. Aber die Genugtuung, uns unbegründet anblaffen zu können, sei ihm gegönnt.

Ähnlich ist es in den Supermärkten. Ich habe noch nie so griesgrämiges und mürrisches Personal erlebt wie in den Netto-Märkten in Deutschland. Man fürchtet sich fast davor, den Kassier mit den Einkäufen zu belästigen.

Mit anderen Worten: Insgesamt haben wir bisher in den Niederlanden viel mehr positive Erfahrungen in Sachen Hilfsbereitschaft gemacht als in Deutschland.